„Notstand erfordert Exekutive“
Wirtschaftspolitik, Grundrechte und die parlamentarische Demokratie in Zeiten der Corona-Pandemie – darüber sprach Gregor von uniCROSS mit dem Freiburger Alumnus Wolfgang Schäuble.
Es ist wohl eine der beeindruckendsten politischen Karrieren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Dr. Wolfgang Schäuble gilt als Architekt der deutschen Einheit, war in einen der größten Spendenskandale der deutschen Nachkriegszeit verwickelt, erlebte 2005 als Innenminister ein politisches Comeback, machte sich dann als Finanzminister weltweit einen Namen als Verfechter einer rigiden Sparpolitik und krönte seine politische Laufbahn als Präsident des Deutschen Bundestages.
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Herr Schäuble, eigentlich wären Sie Anfang April 2020 als Schirmherr einer Ausstellung des Aktionskreises Freiburger Schule und des Walter Eucken Instituts zur Sozialen Marktwirtschaft hier in Freiburg gewesen. Wenn diese Veranstaltung jetzt quasi „nach der Pandemie“ nachgeholt wird, kann in Bezug auf die inhaltlichen Kernaussagen dann überhaupt noch ein Stein auf dem anderen bleiben?
Dr. Schäuble: Ja! Ich denke, dass auch dann die Prinzipien dieselben bleiben. Um die wirtschaftlichen Prozesse möglichst effizient zu entwickeln, brauchen wir die Prinzipien von Markt, Wettbewerb und auch von freier Initiative des Einzelnen. Aber wir brauchen zugleich für die freie Initiative des Einzelnen politisch wie auch wirtschaftlich Regeln, Grenzen und Wertebindungen. Denn ohne all dies zerstört jede freiheitliche Ordnung sich selbst. Und das sind die Prinzipien, die Walter Eucken und die Begründer der Freiburger Schule immer vertreten haben.Und wir sehen ja auch in vielen wirtschaftlichen Krisen, dass genau der Verlust dieser Mitte, dieser Werteorientierung immer wieder zu Krisen führt: Das war in der Finanzkrise so, als die Deregulierung der Finanzmärkte dazu geführt hat, dass massenhaft Missbrauch getrieben worden ist und am Ende die Risiken nicht mehr beherrschbar waren und der Staat einschreiten musste. Und wenn wir uns die großen globalen Probleme anschauen, die wir jetzt haben, und davon ist die Pandemie am Ende auch nur ein Ausdruck: Dann haben wir es eben auch da mit freiem Welthandel, Globalisierung und anderen Dingen wahrscheinlich zu weit getrieben, wenn man sich beispielsweise den Ressourcenverbrauch anguckt. Man muss sich nur die Klimakatastrophe anschauen, die wir ja jeden Tag auch mit wachsender Dürre hautnah erleben. Um aber auch da einen Weg heraus zu finden, werden die grundlegenden Prinzipien der Freiburger Schule, also der menschlichen Freiheiten, der Kraft des Individuums und der Wertebindung immer wieder richtig sein. Sie müssen nur auf die neuen Herausforderungen neu interpretiert werden.
Sie sind ja nicht mehr Vollzeit-Wirtschaftspolitiker sondern Präsident des Deutschen Bundestages: Müssen wir Bürger uns jetzt eigentlich keine Sorgen machen, dass der von uns direkt gewählte Bundestag in der Krise enorm an politischer Bedeutung verliert?
Dr. Schäuble: „Der Notstand ist die Stunde der Exekutive“ ist ein berühmter Satz. In einer solchen Notsituation müssen natürlich diejenigen, die die unmittelbare administrative Verantwortung tragen, handeln können. So wie beispielsweise der Freiburger Oberbürgermeister, der in einer besonderen Situation über erste Beschränkungen entscheiden musste. Oder auch die Länder, die ja in der föderalen Ordnung des Grundgesetzes die Zuständigkeit für den Katastrophenschutz haben.
All das kann natürlich den demokratischen Rechtsstaat nicht aus den Angeln heben. Und deswegen muss das Parlament der Regierung dafür den notwendigen Rahmen geben durch die Gesetzgebung. Und ich habe auch immer darauf gedrängt, dass dies auch in dieser besonderen Krise im Parlament nicht außer Kraft gesetzt werden darf. Schließlich muss das Parlament nicht nur den Rahmen für das Regierungshandeln setzen und die Regierung kontrollieren, sondern es ist auch der Ort, wo die öffentliche Debatte repräsentativ stattfindet. Deswegen brauchen wir auch nicht nur Videokonferenzen, sondern wirkliche Plenarsitzungen mit Debatten. Und genau das haben wir gemacht, auch in der vergangenen Woche.
Außerdem wird dies auch zunehmend wichtiger im Hinblick auf den Weg aus der Krise hinaus: Die Debatte hat in der Öffentlichkeit ja stark an Breite und Tiefe zugenommen. Und diese Debatte muss natürlich am Ende vor allem auch zentral im Parlament geführt werden. Genau diese Aufgaben nimmt der Bundestag wahr. Als ich als Abgeordneter angefangen habe, war ich im Übrigen erst mal zehn Jahre lang Abgeordneter der Opposition. Insofern war meine Hauptaufgabe in meinem eigenen Verständnis nie die des Regierungsvertreters, sondern die des Parlamentariers. Diese Aufgabe kann man in Regierungsverantwortung genauso erfüllen wie in der Opposition.
Dass die Corona-Krise aber auch zu einer wirklichen Krise der parlamentarischen Demokratie werden kann, dafür genügt ja beispielsweise ein Blick nach Ungarn. Haben Sie in Ihrer Funktion als Parlamentspräsident nicht höllische Schmerzen, wenn eine europäische Regierung ohne zeitliche Befristung nur mithilfe von Dekreten und damit über den Kopf eines Parlaments hinweg regieren kann?
Dr. Schäuble: Zunächst einmal: Ich finde, Krisen sind gar nichts Bedrohliches. Krisen sind immer auch Chancen und Herausforderungen. Ohne Krisen schlafen wir ja ein. Insofern mag ich eigentlich das Wort „Krise“ nicht mit einer rein negativen Konnotation bewerten. Das Zweite, was die ungarischen Regelungen betrifft: Die Vertreter der ungarischen Regierung sagen, sie machen im Prinzip auch nichts anderes, als wir es im Bundestag gemacht haben. Nämlich, dass wir der Bundesregierung Ermächtigungen erteilt haben, Dinge zu tun, die sie normalerweise ohne diese gesetzliche Ermächtigung so nicht entscheiden könnten. Wir haben es zeitlich befristet. Die ungarische Regierung sagt, sie würde auch nur so lange wie notwendig ohne das Parlament entscheiden. Herr Orban hat – das gefällt seinen politischen Gegnern zwar nicht, aber es ist eine demokratische Realität – in seinem Parlament eine Mehrheit, die er in Wahlen gewonnen hat. Und die Europäische Kommission wird das jetzt genau überprüfen, ob sich Ungarn an die europäischen Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hält. Und wenn es das nicht tut, dann muss die Kommission einschreiten.
Und wenn die Regierung eines Mitgliedslandes anderer Meinung ist, dann wird darüber letzten Endes vor dem Europäischen Gerichtshof gestritten. So wie beispielsweise im Fall der polnischen Gerichtsreform. Und wenn der Europäische Gerichtshof entscheidet, dann muss diese Entscheidung akzeptiert werden: Das ist die rote Linie! Polen hat bisher Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs genauso respektiert, wie es Ungarn bisher getan hat. Und ich gehe davon aus, dass Ungarn dies auch in der Zukunft tun wird. Deswegen sind meine Bauchschmerzen, nach denen sie mich gefragt haben, insofern begrenzt.
Ich werde allerdings auch nicht müde den ungarischen Gesprächspartnern und Viktor Orbán, den ich seit langem kenne, zu sagen: Die europäischen Regeln gelten für alle. Und sie müssen eingehalten werden. Und bei unterschiedlichen Rechtsauffassungen entscheiden dann die zuständigen Gerichte, deren Entscheidungen dann respektiert werden müssen.
Sie haben in Freiburg Jura studiert und sind damit auch bereits von Ausbildung und Beruf her mit Thematiken zu Rechtsstaatlichkeit usw. vertraut: Der Lockdown war ja letztendlich auch ein Lockdown vieler wichtiger Grundrechte – haben Sie eigentlich Angst, dass diese grundrechtseinschränkenden Maßnahmen jüngeren Menschen bald nicht mehr vermittelbar sind?
Dr. Schäuble: Nein, die Angst habe ich nicht. Wie übrigens auch alle Meinungsumfragen zeigen: Die Menschen haben die Maßnahmen sehr gut verstanden und halten sie auch in ihrer großen Mehrheit für richtig. Es hat sich ja gezeigt, dass die große Mehrzahl unserer Bevölkerung durchaus vernünftig ist und sich im Klaren ist: Wir haben eine außergewöhnliche Situation und müssen uns alle ein Stück weit beschränken.
Und im Übrigen haben wir die Grundrechte ja auch nicht abgeschafft. Keines der Grundrechte ist nicht durch andere Grundrechte auch ein Stück weit beschränkt. Sie beschränken sich auch gegenseitig. Das sagen auch die Verfassungsrichter. Das vorderste Prinzip ist die Würde des Menschen, das ist die Lehre aus Nazi-Barbarei und Holocaust, die unantastbar ist und sein muss. Im Rahmen dessen sind aber immer auch Abwägungsprozesse nötig. Und in einer Situation wie dieser Pandemie können natürlich zeitweilig auch Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, selbst Religionsfreiheit und Bewegungsfreiheit vorübergehend eingeschränkt werden. Es braucht aber eine genaue Begründung und es darf nur so lange zeitlich befristet sein, soweit es unbedingt notwendig ist. Das muss immer wieder überprüft werden und das ist genau der Prozess, der gerade stattfindet.
Wenn Sie sich jetzt mal zurückerinnern an Ihre Studienjahre hier in Freiburg: Was hätten Sie in einer solchen Situation mit Ihrer Freizeit angefangen?
Dr. Schäuble: Ich habe mich schon als Student in Freiburg und auch in der Zeit als Assistent und als Tutor im Colloquium Politikum natürlich immer sehr stark für die allgemeinen großen politischen Fragen interessiert. Ich finde, das ist das Vorrecht der jungen Menschen und auch ihre Pflicht, sich Gedanken zu machen, wohin die Welt geht. Sie wissen zwar nicht alles – sie müssen auch von der Erfahrung der Älteren lernen – aber sie müssen immer wieder darauf drängen, dass Veränderungen und moderne Entwicklungen berücksichtigt werden.
Und genau so haben wir uns damals um diese Fragen in großen Veranstaltungen intensiv gestritten: Wenn ich heute studieren würde, dann würde ich vor allen Dingen darüber diskutieren, wie wir für die großen globalen Themen bessere Lösung finden. Und genau das macht Politik ja auch so faszinierend.
Wobei man, je älter man wird, natürlich auch immer demütiger wird. Es gibt da einen alten Spruch von Bismarck: „Dass man so klug sein kann, wie die Klugen dieser Welt und doch jederzeit geht wie ein Kind ins Dunkle“ – Man kann in der Politik so klug sein, wie nur irgendjemand ist: Von einer Sekunde auf die andere ist man in einer völlig neuen Situation. Kein Mensch hat jemals damit gerechnet, dass es so etwas, wie wir jetzt in dieser Corona Pandemie erleben, zu unseren Lebzeiten geben würde – Wir konnten es uns schlicht nicht vorstellen. Man muss daher immer den Mut zur Entscheidung haben, darüber nachzudenken, wie man etwas angeht. Aber auch gleichzeitig muss man die Demut haben, zu wissen, dass es auch ganz anders kommen kann.
Autor: Gregor Lischka