Marktwirtschaft und Vertrauen
Zwischen Einkommensschichten und Altersgruppen fehlt es an Solidarität und Vertrauen. Das sagt die Soziologin und Leiterin des Wissenschaftszentrums Berlin, Prof. Jutta Allmendinger. Zivilgesellschaft und Politik müssten gleichermaßen daran arbeiten.
Die soziale Ungleichheit verschärft sich, und die Gesellschaft driftet nicht nur in den Einkommensunterschieden auseinander. Sie tut sich auch schwer, überhaupt politische Entscheidungen zu treffen, um die Probleme der Zukunft anzugehen. Die Soziologin fasst es so zusammen: „Wir reden zu wenig miteinander, und je weniger wir miteinander reden, desto weniger wird sich in der Demokratie verändern lassen.“
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Frau Allmendinger, welche Probleme treiben die Gesellschaft heute an?
Allmendinger: Ich sehe das Hauptproblem in der heutigen Gesellschaft darin, dass sich auf der einen Seite die soziale Ungleichheit massiv verschärft. Sie verschärft sich eben nicht nur zwischen Personen, also Individuen, sondern sie verschärft sich zwischen Haushalten. Das liegt daran, dass gleich zu gleich sich immer lieber miteinander verbündet. Dass es dadurch so richtige Erbengemeinschaften gibt, und es eben viele Haushalte gibt, die Reichtum akkumulieren und viele, die eben Armut akkumulieren. Und dass diese Menschen kaum noch zusammenfinden, also diese Verbindung der kleinen Haushalt-„Wirs“, wenn Sie es so bezeichnen wollen, zu einer großen Gesellschaft. Und von daher brauchen wir einen massiven Diskurs über den Abbau von sozialer Ungleichheit, und dieser muss getrieben sein durch einen Aufbau von Vertrauen.
Wie kann man Vertrauen aufbauen? Also worauf baut sich dieses Misstrauen, wenn man in die Zukunft sieht?
Allmendinger: Dieses Misstrauen baut sich darauf auf, dass wir zwar wissen, dass Menschen ein Nest brauchen, dass sie Familie brauchen, Freundeskreise brauchen, wo sie sich wohlfühlen. Das sind meistens Personen, die Sie sich relativ aussuchen, und von daher sind diese Personen relativ ähnlich zu der Person selbst. Aber es muss eine Möglichkeit geben, sich zu anderen kleinen „Wirs“ zu verbinden. Und da gab es früher sehr starke Institutionen, wie beispielsweise die Gewerkschaften oder die Kirchen, oder den Wehrdienst für Männer oder später den Zivildienst, oder sehr starke Verbände.
Und wir sehen, dass diese Verbände, diese Gewerkschaften, die großen Volksparteien an Bindungskraft verlieren. Von daher wird sich die Frage stellen, wo sind eigentlich heute noch die Institutionen der Begegnung? Wo sind heute noch die Orte der Begegnung, wo man nicht auf Seinesgleichen trifft, sondern wo man auf unterschiedliche Menschen trifft, die einem dann auch die Möglichkeit geben, Stigmatisierungen und Vorurteile abzubauen und auf Augenhöhe miteinander zu kommunizieren. Denn die großen Diskurse des heutigen Lebens, die Digitalisierung, die Angst Arbeit zu verlieren, die Angst gebrandmarkt zu werden, auf der Straße zu stehen, die Angst vor Überfremdung, die Angst vor der Klimakatastrophe. Ich könnte jetzt noch alle möglichen Ängste aufzählen, die können wir nur über gemeinschaftliche gesellschaftliche Diskurse lösen. Und für einen gesellschaftlichen Diskurs braucht es nichts anderes als persönliche Aussprache miteinander.
Also die große Frage ist, glaube ich, tatsächlich: Was hält die Gesellschaft zusammen, wie erzeugen wir Solidarität? Und ich würde sagen, eine der grundlegenden Bedingungen für Solidarität heißt Vertrauen.
Welche Institutionen können wir uns in der Zukunft vorstellen, die neues Vertrauen schaffen, wenn das die alten nicht mehr tun?
Allmendinger: Jetzt bin ich ja gerade hier reingelaufen, und was habe ich gesehen? Eine futuristisch neue Bibliothek. Wenn Sie sich die Entwicklung von Bibliotheken anschauen, durchaus auch die Entwicklung von Universitätsbibliotheken, so hat deren Bedeutung als Ort der Begegnung für den öffentlichen Raum massiv abgenommen. Man macht das digital, man macht das zuhause am Computer. Warum soll man dann noch irgendwelche Bücher in der Bibliothek ausleihen? Das ist eine Erfolgsgeschichte. Wenn Sie zum Beispiel heute in die Amerikanische Gedenkbibliothek in Berlin gehen, dann rockt das. Da sitzt der schnarchende Obdachlose neben dem Theologen, der da arbeitet. Da sind individuell organisierte Workshops, das brummt. Wenn Sie nach Hamburg gehen, dann haben Sie die offene Bibliothek für die ganze Nacht. Das sind neue Orte der Begegnung.
Wenn Sie sich einzelne Initiativen anschauen von so einer neuen Eventkultur, da sehen Sie auch hier, dass ganz andere Leute zusammentun, die sich im normalen Leben überhaupt nicht treffen. Wenn Sie sich Schulprojekte angucken, dann setzen die auf die Diversität der Schülerinnen und Schüler, auch durchaus mit dem Ziel, ganz unterschiedliche Kreise miteinander zu verbinden.
Wenn Sie die großen Hoffnungen der Volksparteien sehen, in ihre Jugend zu gehen, wenn Sie jetzt die ganze Frage des Klimas und Fridays for Future sehen, dann sehen Sie ja auch, das ist kein Zirkel der 16- bis 18-Jährigen. Das hat tatsächlich auch eine Breitenwirkung. Und so etwas erzeugt ein Miteinander, und auf dieses Miteinander im Kleinen baut sich etwas, was ich als generalisiertes Vertrauen kennzeichne, also auch eine Öffnung für die Anderen.
Wenn ich Sie richtig verstehe, ist es vor allen Dingen auch die Politik, die diese Räume erbauen und neu gestalten muss.
Allmendinger: Ich bin bislang eigentlich noch nicht so richtig bei der Politik gewesen, ich war hauptsächlich bei der Zivilgesellschaft, bei Verbänden, bei nichtpolitischen Organisationsstrukturen. Aber natürlich, diese Vertrauenskrise, die ich durchaus an vier oder fünf Beispielen darstellen kann, muss man durch eine Politik des Vertrauens angehen.
Und wenn ich jetzt mal zwei oder drei der großen Vertrauenskrisen heraussuchen darf, dann wäre die eine, dass man kein Vertrauen mehr hat in die Innovationsfähigkeit Deutschlands. Man bekommt medial vermittelt: Diese bräsigen Deutschen, die so satt geworden sind, sich in ihrem Wohlstand baden und in der gestiegenen Erwerbsbeteiligung und eigentlich nicht mehr Denken: Wo sind die innovativen Konzepte? Wenn Sie die Leute anschauen, kriegen Sie zunächst auch einmal die Antwort: Innovationsfähigkeit? Nein, ist mir so mittelwichtig. Wenn Sie dann aber fragen, sollte das Ihres Erachtens wichtig sein und würden Sie daran mitwirken, sagen sie: auf alle Fälle. Das ist etwas, was mich interessiert, wo ich auch persönlich mitmachen würde. Und wenn man dann fragt, ja warum machen Sie es nicht, dann bekommt man die Antwort: Ja, an wen soll ich mich denn wenden? Ich sehe beispielsweise, dass meine Jobs verloren gehen, und ich würde gerne heute in eine andere Richtung gehen, selbst gerne weiter lernen, etwas ganz Neues machen, aber ich habe keine Anlaufstation. Und da muss die Politik rein. Da muss sie so etwas wie die Prophylaxe des Arbeitslebens machen. So wie wir es im Gesundheitssystem quasi haben, wo ich Mammographiebescheide und Einladungen im Postfach habe. Aber ganz bestimmt nichts im Briefkasten habe, was die Zukunftsfähigkeit meiner Profession betrifft.
Ein zweites gutes Beispiel ist die Erwerbsgesellschaft, die von niemandem in Deutschland angekrittelt wird. Es gibt keinen größeren Wert als erwerbstätig zu sein. Das wollen alle, das wollen alle in Ihrem Alter, das wollen die Leute in meinem Alter, und das finden auch noch die Leute gut, die 10 Jahre jünger sind als Sie und 20 Jahre älter als ich. Es ist umspannend. Das große Problem dieses Vertrauensverlustes geht in eine ganz andere Richtung. Nämlich dahingehend, dass man sagt, ich mache wichtige Arbeit, die tut mir gut, die bedeutet mir etwas. Die ist gesellschaftlich wichtig, die ist individuell wichtig. Aber sie alle lassen sich kompromittieren, sie machen Arbeit um jeden Preis. Darum geht unser sozialer Kontrakt um Gewerbstätigkeit nicht, der geht nicht nur darum zu arbeiten, um Geld zu verdienen. Der geht tatsächlich auch darum, sich selbst zu verwirklichen, Arbeiten um etwas für die Zivilgesellschaft zu tun, Arbeiten um etwas für das Wirtschaftswachstum zu tun. Da ziehen wir nicht mehr an einem Band, und da ist die Frage: was macht die Politik?
Da braucht es eine neue Politik des Vertrauens, die sich nicht nur auf Fragen des Mindestlohns setzt, sondern auch auf Fragen der Mindestgüte von einer Arbeit, also was ist gute Arbeit? Und sich Gedanken darüber macht, wie man gute Arbeit gemeinschaftlich neu definiert, und wie man sie dann aber auch an den Arbeitsplatz bringt. Und da sind die Akteure, natürlich die Politik, aber natürlich auch die Gewerkschaften, die sich in diesem Sinne dafür neu erfinden müssen und andere Themen hochziehen müssen, als das was sie klassischerweise machen, nämlich Fragen der Arbeitssicherheit und der Bezahlung.
Gewerkschaften werden totgesagt, auch weil viele nicht mehr in einer Gewerkschaft sind, weil die klassische Arbeiterschicht weggefallen ist.
Allmendinger: Ja, aber ich will ja gerade etwas tun für die Wiederauferstehung der Gewerkschaften.
Also würden Sie sagen, dass Gewerkschaften ein sehr wichtiger Baustein einer zukünftigen Gesellschaft sind?
Allmendinger: Absolut. Weil alles, was Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, aus unterschiedlichen sozialen Lagen, mit unterschiedlichem Einkommen, mit unterschiedlicher Bildung zusammenbringt. Per se für mich das Mittel zum Zweck ist, Leute zusammenzubringen, und so etwas wie eine Kohäsion und ein gesellschaftliches Miteinander zu erzeugen. Weil ohne dieses stärkere Miteinander wir gar nicht anfangen müssen, Klimafragen zu verhandeln, Fragen der sozialen Ungleichheit zu verhandeln. Das schaffen sie nicht, wenn sie nicht in einen persönlichen Diskurs reingehen.
Welche Anreize und Maßnahmen müsste die Politik denn ergreifen, damit so etwas geschieht? Ich sehe das noch nicht so kommen, das ist ein sehr träger Prozess.
Allmendinger: Ja, ich sehe das auch nicht kommen. Deshalb arbeite ich ja daran. Ich gebe ihnen jetzt mal ein Beispiel. Ich darf beim 70. Geburtstag der Gewerkschaften reden. Angela Merkel wird die Eröffnungsrede halten, und dann darf ich mit einem Herrn, der auch über 60 ist, diskutieren. Das ist jetzt natürlich nichts, was die Leute in Ihrem Alter vom Hocker reißt. Da müssen die natürlich mit rein, sie müssen eine Stimme bekommen, und sie müssen aktiv sagen, an welchen Stellen ihnen, die oft freiberuflich arbeiten, die oft ganz digital und fern von einem Arbeitsplatz arbeiten, was denen helfen könnte. Und das ist wieder wie Back-to-the- roots. Gewerkschaften waren viel mehr für das ganze Leben da, die haben sich auch um Wohnbedingungen gekümmert und um Haushaltssituationen und um Vereinbarkeit. Das wären so Punkte, wo man reinbohren könnte und sagen müsste, das ist gewerkschaftliche Arbeit von gestern, aber das muss auch die von morgen sein, und was in der Zwischenzeit war, war wichtig, ist aber nicht mehr zukunftsfähig.
Wir wissen schon sehr viel, es wird aber wenig gehandelt wegen vielen Ängsten in der Politik. Wieso handeln wir nicht?
Allmendinger: Bei der Klimadiskussion ist einer der Megaimpulse, dass es von den Jungen zu den Alten geht. Und dieser Weg, so erscheint es mir, ist erfolgsversprechender, als wenn er von den Alten immer mit diesen Imperativen „Wir müssen, wir müssen, wir müssen“ und ihr bösen Jungen macht nicht mit, kommt. Es ist also auf der einen Seite eine Spannung zwischen Generationen, nicht als eine ausgetragene Spannung, die Kids kommen immer besser mit ihren Eltern zurecht, sondern dass man Zukunftsperspektiven gemeinsam über Altersgruppen diskutiert. Dann hat man diesen großen Riss, mit dem ich angefangen habe, der immer größeren Spaltung in der Einkommensstruktur, in der Bildung. Auch da kommt man nicht zusammen. Also in einem Wort: Wir reden zu wenig, und je weniger wir miteinander reden, desto weniger, so meine Meinung, wird sich in der Demokratie verändern lassen.
Interview: Thomas Hermanns
Kamera: Ada Rhode, Saskia Rohleder
Autor: Thomas Hermanns