Internationaler Kontext von 1968
4. Demonstrationen für Hochschulreform, Thailand (1969–1970er)
DAS „LANGE ’68“
1968 war ein besonderes Jahr. Es war aber weder der Anfang noch das Ende einer Ära; wenn überhaupt, dann war es der Höhepunkt längerfristiger Umbrüche und diente vielen zukünftigen Bewegungen als Vorbild. Der britische Historiker Richard Vinen nennt „1968“ sogar „ebenso wie »Barock« Stil- und Epochenbegriff zugleich“. [1] Dass das „lange 1968“ so einzigartig war, war unter anderem dem gleichzeitigen (und spontanen) Ausbruch von Protestbewegungen weltweit – insbesondere von Jugendlichen und Studierenden – geschuldet.
Dies war nur in einer Welt möglich, die durch verbesserte öffentliche Kommunikationsnetze und umfassende Massenmedienpräsenz viel verbundener als zuvor war. Nachrichten von diesen Protesten und den aktuellen Ereignissen in anderen Städten und Ländern konnten sich schnell in aller Welt verbreiten, was für viele Studierende ein Impuls war, ihre eigenen Proteste anzustoßen.
Die amerikanische Protestbewegung der 60er Jahre, die heute vor allem mit „Hippies“ in Verbindung gebracht wird, aber tatsächlich eine wesentlich breitere soziokulturelle Basis hatte, wurde dabei vor allem durch den mit zunehmender Härte geführten und zunehmend aussichtslosen Vietnamkrieg befördert. Im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Engagement in Ostasien stehen ebenso antikommunistische Repressionen in Indonesien. In der noch jungen Volksrepublik China fand zeitgleich die „Große Proletarische Kulturrevolution“ statt, im Zuge derer Mao Zedong seine Herrschaft im „Reich der Mitte“ zementierte.
Doch auch der Westen veränderte sich in den „langen 68ern“ nachhaltig: Teils stand dies im Zusammenhang mit den politischen und kulturellen Veränderungen in den USA, teils waren die Umwälzungen autonome europäische Phänomene. Während in Prag erfolglos der Aufstand gegen den autoritären Sozialismus sowjetischen Typs geprobt wurde, demonstrierten in Westeuropa Studierende in Deutschland, Italien aber vor allem in Frankreich im Mai und Juni 1968 gegen die als autoritär versteinert empfundenen Systeme der Post-Adenauer- und De-Gaulle-Ära.
Eine Vielzahl von anderen, lokal begrenzteren Protestbewegungen fand parallel auf der ganzen Welt statt. Einige Beispiele:
1. Massaker von Tlatelolco, Mexiko
(02. Oktober 1968)
Auf dem „Platz der drei Kulturen“ im Stadtteil Tlatelolco von Mexiko-Stadt kommt es im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele zu friedlichen Studentenprotesten, gegen die das Militär brutal vorgeht. Zwischen 200 und 300 Studenten werden getötet.
2. Catavi-Massaker, Bolivien
(24. Juni 1967)
Im Zinnbergwerk „Siglo XX“ bei Catavi organisieren sich die Bergleute gewerkschaftlich gegen schlechte Arbeitsbedingungen und extreme Unterbezahlung. Nach der Exilierung der Gewerkschaftsführer wird das Bergwerk durch das Militär besetzt. Bei einer Versammlung der übrigen Gewerkschafter werden etwa 100 Arbeiter und Familienangehörige erschossen.
3. Märzunruhen in Polen
(März 1968)
Durch die Öffnung des tschechoslowakischen Systems im Prager Frühling gibt es unter den polnischen Studenten ebenfalls Hoffnung auf eine Liberalisierung. Dies entlädt sich zunächst in Demonstrationen für einen unzensierten Kulturbetrieb in Warschau, die sich schnell auf das ganze Land ausbreiten und sich zu einer Regierungskrise auswachsen. Als Gegenmaßnahme wird eine antisemitische Kampagne initiiert, die Tausende die Arbeitsstelle kostet und unter der der Widerstand schließlich zusammenbricht.
4. Demonstrationen für Hochschul-
reform, Thailand (1969–1970er)
Ab 1969 beginnen die Demonstrationen der thailändischen Studentenschaft der Universitäten Thammasat und Chulalongkorn für eine Hochschulreform. Das seit 1965 inaktive National Student Center of Thailand (NSCT) wird 1969 wiederbelebt und spielt insbesondere in den 1970er Jahren eine bedeutende Rolle in der thailändischen Studentenbewegung.
5. Studenten-
proteste für Reformen, Malaysia (1967–1974)
1967 protestieren malaysische Studierende gegen die Verhaftung von Bauern, die auf einem Landstück in Teluk Gong, Selangor, illegal Landwirtschaft betrieben hatten. In der Folge wächst die Studentenbewegung in Malaysia, die Studierenden verlangen Demokratie und Reformen.
6. Zengakuren-Bewegung, Japan (1960er)
Das Zengakuren (dt. Alljapanischer Allgemeiner Verband der studentischen Selbstverwaltungen) ist eine linksradikale Studierendenorganisation, die in den 60er Jahren mehrere Proteste und Demonstrationen in Japan anführt. Ihre Forderungen umfassen u.a. die Verurteilung der amerikanischen Invasion von Vietnam und des amerikanischen Nuklearprogramms.
Im Folgenden sollen für die Revolten und Protestbewegungen um 1968 und ihre internationale Dimension besonders wichtige Ereignisse ausführlicher vorgestellt werden. Dabei wird vor allem im Fokus stehen, inwieweit Freiburger Studierende auf diese internationalen Proteste reagierten.
I.
DIE ERMORDUNG VON MARTIN LUTHER KING JR.
AM 4. APRIL 1968
Am Abend des 4. April wurde auf der Veranda eines Motels am Stadtrand von Memphis, Tennessee der baptistische Pastor und die zentrale Figur der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King Jr. durch einen weißen Rassisten ermordet. In Folge seines Todes kam es in mehr als hundert Städten zu Aufständen, denen insgesamt 39 Menschen zum Opfer fielen. Da sich die Lage im Land jedoch recht schnell wieder normalisierte, zog die Regierung auf Drängen des Kongresses weitreichende Zugeständnisse an die afroamerikanische Bevölkerung der USA wieder zurück. Dennoch wurde bereits am 11. April der Fair Housing Act (später auch Civil Rights Act genannt) verabschiedet.
Noch vier Jahre zuvor, am 13. September 1964, war der Prediger auf Einladung Willy Brandts nach Berlin gekommen. King hatte auch in der Ostberliner Marienkirche am Alexanderplatz eine Predigt gehalten und Parallelen zwischen der deutsch-deutschen Wirklichkeit und der Bürgerrechtsbewegung gezogen:
„Gerade wie wir beweisen müssen, dass wir die Prüfstelle für das Zusammenleben der Rassen sind, trotz ihrer Unterschiede, so prüft ihr die Möglichkeit der Koexistenz für zwei Ideologien, die um die Weltherrschaft konkurrieren. Wenn es überhaupt Menschen gibt, die beständig empfindlich sein sollten wegen ihrer Bestimmung, dann sollten es die Menschen in Berlin sein, in Ost und West.“ [2]
Auch daher wurde in Deutschland nach Ermordung des Bürgerrechtlers vielerorts Solidarität bekundet. In Westberlin fand am 12. April 1968 eine „Black-Power“-Demonstration am Lehniner Platz statt. Da es jedoch erst am Vortag unweit zu einem Attentat auf Rudi Dutschke gekommen war, wurden die Belange des afroamerikanischen Kampfes um Gleichberechtigung kaum behandelt.
In Freiburg gab es keine Proteste nach dem Tod des Bürgerrechtlers. Auch die Freiburger Studentenzeitung (FSZ) scheint sich nicht weiter für seinen Tod interessiert zu haben. Inmitten der politischen Wirren in der Bundesrepublik, lokalen Angelegenheiten wie Debatten um Fahrpreiserhöhungen und die universitäre Grundordnung waren die US-Amerikanischen Südstaaten vermutlich zu weit weg.
II.
Paris im „Mai“ 1968
Bereits seit November 1967 forderten linke Studentenvereinigungen in Frankreich im Protest gegen die seit der Gründung der fünften Republik im Jahr 1958 als konservativ und reaktionär empfundenen französischen Regierungen eine politische Wende. Neben der generellen Kritik am gaullistischen Konservativismus wurden dabei auch Forderungen nach einer Bildungsreform und Verbesserung der Studienbedingungen laut. Diese verhallten jedoch ohne weitere Reaktion seitens des Staats, welcher lediglich verstärkt Polizisten in Zivil zur Überwachung der „aufrührerischen“ studentischen Organisationen an die Universitäten schickte.
Ab Februar 1968 besetzten die als Enragés, also die „Wütenden“, bekannten Studierenden im Protest gegen diese Überwachung Studentenwohnheime an der Universität von Nanterre, unweit des Pariser Stadtkerns. Die Proteste in Nanterre kulminierten am 22. März in der Gründung der nach diesem Datum benannten „Bewegung 22. März“ und am zweiten Mai in der vorübergehenden Schließung der Universität.
Zu diesem Zeitpunkt war es jedoch bereits zu spät, um die landesweite Protestbewegung aufzuhalten. In Zusammenarbeit mit streikenden Gewerkschaften begannen, ausgehend vom Epizentrum der Proteste an der Pariser Sorbonne-Universität im Quartier Latin, im ganzen Land Studierende, ihre Universitäten und Wohnheime sowie kulturelle und staatliche Einrichtungen zu besetzen. In den „heißen“ Monaten dieser Proteste, also im Mai und Juni 1968, kam es vor allem in Paris häufig zu Straßenschlachten, bei denen die Polizei mit äußerster Härte vorging. Es war dieser Gewalteinsatz, durch den sich der allgemeine Protest gegen den staatlichen Autoritarismus ausweitete und „revolutionärere“ Züge annahm.
Die „heiße“ Phase des Jahres 1968 war bereits vorbei, als mehrere Freiburger Studierende sich gegen Ende des Jahres mit dem Auto auf den Weg nach Paris machten, um dort Bücher des kommunistischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich zu verbreiten. Durch überhöhte Zölle gezwungen, die Bücher bereits an der französischen Grenze liegen zu lassen, setzten sie dennoch ihre Fahrt fort. Der Bericht der Studierenden in der Freiburger Studentenzeitung (FSZ) zeichnet ein eindrückliches Bild von der staatlichen Präsenz in Paris im Nachklang des „Mai“:
„Schlimmer [als der als normal hingenommene Einbruch in das Auto der Freiburger, Anm. d. Autors] sind,
- Polizeigruppen in Uniform und Zivil vor allen öffentlichen Gebäuden.
- Das Verbot aller linken Studentengruppen.
- Die Garde Mobile, die jeden Ansatz von öffentlichen Versammlungen oder Demonstrationen mit sofortigem Knüppeleinsatz und Verhaftungen beantwortet.
- Die bei den Maiunruhen aufgerissenen Seineuferstraßen werden asphaltiert, damit keine Barrikaden mehr gebaut werden können.“
„Auch äußerlich zeigt Paris mehr und mehr das Gesicht des autoritären Staates: Die verzerrte Fratze der Polizeigewalt tritt hervor hinter der glatten Fassade von Asphalt und Neon und den Resten Pariser Touristenromantik. Nicht mehr „Aux Armes“ — zu den Waffen — nur noch „Aux Larmes“ — zu den Tränen — kann dieser Staat seinen Bürgern zurufen. Denn zu groß wäre die Gefahr, daß diese sie gegen ihn selbst richten würden.“ [3]
III.
Der „Prager Frühling“ 1968
Zwei Ereignisse im Jahr 1968 werden unter dem Begriff „Prager Frühling“ zusammengefasst: Einerseits handelt es sich um den Versuch, in der damals sowjetisch dominierten Tschechoslowakei einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu etablieren. Angestoßen hatte die Reformen der zunächst vollkommen „unverdächtige“ und linientreu erst im Januar 1968 eingesetzte Parteivorsitzende der KPČ, Alexander Dubček. Der von der KPČ im April vorgeschlagene Reformkurs sah unter anderem Wirtschaftsreformen in eine marktwirtschaftliche Richtung, die Einführung der Meinungs- und Informationsfreiheit sowie die klare Abgrenzung von der stalinistischen Vergangenheit vor.
Trotz der ablehnenden Haltung der anderen Ostblockstaaten, allen voran der Sowjetunion, setzte Dubček die Durchsetzung der Reformanstrengungen fort. Mit der Abschaffung der Zensur begann die Presselandschaft in der Tschechoslowakei regelrecht zu „explodieren“.
Diesen Wandel und den damit einhergehenden Machtverlust der KPČ wollten die Sowjetunion und die übrigen Staaten des Warschauer Paktes nicht hinnehmen. Obwohl Leonid Breschnew persönlich auf eine diplomatische Lösung pochte, musste er sich letztlich dem Druck des Militärs und der anderen Mitgliedsstaaten beugen. Der darauf folgende Einmarsch sowjetischer Truppen sowie Einheiten anderer Staaten des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei und die blutige Niederschlagung der Reformbewegung ist die zweite Bedeutung, die der Begriff des „Prager Frühlings“ heute trägt. Legitimiert wurde die Repression mit der „Breschnew-Doktrin“, welche die lediglich „beschränkte Souveränität“ sozialistischer Staaten unter der Ägide der Sowjetunion postulierte und es dieser ermöglichen sollte, bei einer „Bedrohung des Sozialismus“ ohne Rücksicht auf die Unabhängigkeit der Bündnispartner militärisch aktiv zu werden.
In Westdeutschland wurde die Nachricht vom Einmarsch der sowjetischen Truppen und die heftigen Auseinandersetzungen mit der Prager Zivilbevölkerung entsetzt aufgenommen. Sowohl die bürgerliche Presse als auch Organe der APO beurteilten die Versuche, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen, wohlwollend, wenn auch wohl mit unterschiedlichen Motiven. [4] Umso erstaunlicher ist es, dass sich die FSZ als zentrales Organ der Freiburger Verfassten Studierendenschaft wie schon bei der Ermordung Martin Luther Kings nicht zu den Vorgängen äußerte.
IV.
Vietnamkrieg und der Besuch des Botschafters Südvietnams
in Freiburg am 29. Juni 1967
Der Vietnamkrieg ist gemeinhin bekannt als der erste „television war“. Er war der allererste bewaffnete Konflikt in der Geschichte, über den in solch einem Umfang im Fernsehen berichtet wurde. Noch nie (und seither nie wieder) wurden Kriege – genauer gesagt, die Gräuel des Krieges – dem breiten Publikum so direkt und so hautnah vermittelt. [5] Die erste Videoaufnahme der Gewalt amerikanischer G.I.s, die am 3. August 1965 auf Video festgehalten und zwei Tage später in den USA ausgestrahlt wurde, zeigte die jungen Soldaten, wie sie trotz demütiger Bitten der vietnamesischen Landbevölkerung deren Hütten mit Flammenwerfern und Zippo-Feuerzeugen in Brand setzen. [6]
Seit Beginn der aktiven Kriegsbeteiligung des US-amerikanischen Militärs in Vietnam Mitte der 1960er Jahre gingen Hunderttausende Studierende und Jugendliche weltweit auf die Straßen, um gegen die amerikanische Kriegführung zu demonstrieren. Freiburg war keine Ausnahme. Die FSZ wurde rasch Diskussionsplattform, über welche die Studierenden von Aktivitäten anderer Hochschulen und Universitäten in Bezug auf den Vietnamkrieg berichteten und sich darüber austauschten.
Am 29. Juni 1967 besuchte Nguyen Quy Anh, Botschafter der Republik Vietnam (Südvietnam) in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg. Der Botschafter war von den Burschenschaften Alemannia, Franconia, Saxo-Silesia und Teutonia eingeladen worden, um einen Vortrag über das Thema „Befriedung und Aufbau der Demokratie“ im Haus der Burschenschaft Teutonia zu halten. [7]
Im Wesentlichen beschrieb der in der Juli-Ausgabe der FSZ 1967 veröffentlichte Zeitungsartikel von Ute von Hagemann sowie ihr Bericht über Nguyens Vortrag hinter verschlossenen Türen in der November-Ausgabe, den Botschafter und das südvietnamesische Regime als politische Marionetten der Amerikaner.
Während der 1968 ausgeweitete US-amerikanische Militäreinsatz in Vietnam weltweit schärfer als je zuvor verurteilt wurde, war die Zahl von Berichten und Leserbriefen über den Vietnamkrieg in der FSZ ab 1968 dramatisch gering. Der Schwerpunkt der Artikel lag zunehmend auf lokalen Nachrichten. Das bedeutete aber nicht, dass der Verlauf des Vietnamkrieges die Freiburger Studierenden nicht interessiert hätte, aber die örtlichen Ereignisse (v.a. die Debatten über Hochschulreform in Freiburg) dominierten die Berichterstattung der FSZ.
V.
Die Große Proletarische Kulturrevolution in China
zwischen 1966 und 1976
„Unser Erziehungskurs muss gewährleisten, dass jeder, der eine Ausbildung erhält, sich moralisch, geistig und körperlich entwickelt, und zu einem gebildeten Werktätigen mit sozialistischem Bewusstsein wird.“ [8]
Diese Worte wurden 1969 in der FSZ zitiert. Laut Mao Zedong war ein umfassendes Jugenderziehungsprogramm erforderlich, um die Zukunft des sozialistischen China sicherzustellen. Obwohl dieses Zitat auch in der „Mao-Bibel“ gedruckt wurde, sah die Situation in China ganz anders aus. In den 60er Jahren wackelte Maos Stuhl wegen zunehmender politischer Rivalitäten innerhalb der Kommunistischen Partei. Der Vorsitzende musste so schnell wie möglichst reagieren, bevor er seine Macht und seinen Einfluss als der „Große Steuermann“ Chinas verlor. Sein Aufruf zu einer revitalisierten revolutionären Aktion stieß nicht auf taube Ohren: Mehrere Millionen Jugendliche im ganzen Land, die sich selbst die „Rotgardisten“ nannten, folgten seinem Aufruf. Dadurch wurde die „Große Proletarische Kulturrevolution“ in Gang gesetzt.
Zunächst sollten die „antirevolutionären Elemente“ im Staatsapparat sowie in der Gesellschaft ausgerottet werden, die sich „den reaktionären Standpunkt der Bourgeoisie“ zu eigen gemacht hatten. [9] Da die Rotgardisten überwiegend Schüler und Studierende waren, waren die ersten Angriffsziele Lehrer und Dozenten.
Um ein neues kommunistisches China zu bauen, müsse das alte gesellschaftliche System vernichtet werden – erklärte Mao. [10] Die Rotgardisten fegten über das Land hinweg und zerstörten Jahrtausende chinesischer Kultur und Tradition: Unschätzbare Bücher und Kunstwerke wurden verbrannt, religiöse Bauwerke geplündert, Gedenkstätten verwüstet. Zusätzlich wurden die Jugendlichen dazu angehalten, sich die „Mao-Zedong-Gedanken“ vermitteln zu lassen. Das Buch „Worte des Vorsitzenden Mao Zedong“, auch verniedlichend als „das kleine Rote Buch“ oder „Mao-Bibel“ genannt, war das Hauptlehrmaterial der Jugendlichen während der Kulturrevolution. Öffentliche Rezitationen aus der Mao-Bibel und Studienkreise wurden in ganz China organisiert.
Die Schätzungen zur Opferzahl in der Kulturrevolution variieren stark: Von 1966 bis 1976 wurden zwischen 400.000 und mehr als drei Millionen Menschen getötet. [11] Bedauerlicherweise gab es kaum zutreffende Berichte bezüglich der Gräueltaten der Rotgardisten in Europa und Belege dafür, dass sie tatsächlich von Mao selbst zugelassen wurden. Tatsächlich wurde die chinesische Revolution in der FSZ als ein großer Erfolg begeistert aufgenommen. Mao wurde in vielen Ländern noch lange als Revolutionsheld, Symbol der Befreiung und Führer der Sozialreformen verherrlicht – ein Image, das auch in der FSZ dargestellt wurde. [12]Der „Rote Terror“ hinterließ das Land in einem Chaos und scheiterte kläglich daran, eine sozialistische Utopie zu errichten. Die Zerstörung und den Kulturverlust, welcher mit der Kulturrevolution einherging, kann man noch bis zum heutigen Tag in China beobachten.
VI.
Antikommunistischer Putsch in Indonesien von 1965 bis 1966
Am 30. September 1965 ermordete eine kommunistische Splittergruppe sechs leitende Generale der indonesischen Armee in einem versuchten Staatsstreich. Dieser gescheiterte Putsch, der auch „Bewegung 30. September“ genannt wurde, nahmen Führungskräfte der nationalen Armee, die Generalmajor Suharto leitete, zur Gelegenheit, um eine landesweite politische Säuberung gegen Kommunisten und kommunistische Sympathisanten durchzuführen. Das Ergebnis war eines der größten Blutbäder des 20. Jahrhunderts: die Schätzungen der Opferzahl reichen von 500.000 bis hin zu 3.000.000 Toten
Die Kommunisten hatten seit der indonesischen Unabhängigkeit von der holländischen Herrschaft eine bedeutende Rolle in der indonesischen Politik gespielt. Als Suharto ihrer allgemeinen Verfolgung freie Fahrt gegeben hatte, sannen die Studierendenorganisationen, die früher von den kommunistischen Studentengruppen immer wieder unter Druck gesetzt worden waren, auf Vergeltung.
Anfang 1966 kamen die studentischen Demonstrationen in der Hauptstadt Jakarta in Schwung. Beflügelt von den internationalen Ereignissen wie den Protesten gegen den Vietnamkrieg, drängte die antikommunistische Studentenbewegung in Indonesien vor allem auf die sogenannten Tritura (Tri Tuntutan Hati Nurani Rakyat, oder „Drei Forderungen der Bevölkerung“): Erstens, die Aufhebung der Kommunistischen Partei Indonesiens (Partai Komunis Indonesia, PKI); zweitens, das „Umrüsten“ des Kabinetts bzw. die „Ausrottung“ der Kommunisten; und drittens die Reduzierung allgemeiner Lebenskosten und die Verstärkung der Wirtschaft. [13] Die antikommunistischen Säuberungen beschränkten sich nicht auf die Grenzen dieses südostasiatischen Landes; ihre Wirkungen konnte man auch am anderen Ende der Welt in der Bundesrepublik Deutschland spüren. Am 19. Oktober 1966 sandte die indonesische Botschaft allen indonesischen Studierenden ein Rundschreiben, um sie zur Mitgliedschaft im Verband der Indonesischen Studierenden (Perhimpunan Pelajar Indonesia, PPI) zu verpflichten. Darüber hinaus bat sie die Akademischen Auslandsämter ganz unverfroren um „wertvolle Mitwirkung und sinnvolle Unterstützung“ bei politischer Durchleuchtung bzw. „screenings“. [14] Dieser „Bitte“ kamen einige Auslandsämter bedauerlicherweise sofort nach, jedoch nicht in Freiburg.
Solche politischen „screenings“ waren üblicherweise zweigeteilt in das „Gelöbnis“ und einen Fragebogen. Das „Gelöbnis“ zwang alle jungen Indonesier in Westdeutschland, ihre Loyalität zu Indonesien und zur „indonesischen Revolution“ zu schwören, sich politisch auf die sogenannte „neue Ordnung“ und auf die antikommunistische Ausrichtung der europäischen PPI unter Sukarno umzuorientieren. [15] Zusätzlich zum „Gelöbnis“ mussten die indonesischen Studierenden einen umfassenden Fragenbogen ausfüllen, in dem sie nicht nur ihre persönlichen Daten preisgeben, sondern auch Fragen in Bezug auf ihren Freundeskreis und ihre Freizeitaktivitäten beantworten mussten. Wenn sie dieser Verpflichtung der indonesischen Botschaft nicht nachkamen, drohte eine Nichtverlängerung ihrer Reisepässe.
Die Freiburger Studentenschaft denunzierte die von der indonesischen Botschaft organisierten „screenings“. Am 8. Juni 1967 wurde diese Angelegenheit in der 112. Sitzung des Deutschen Bundestages zur Diskussion gestellt. Es wurde vermutet, dass die Angst der Bundesregierung, ihre guten Beziehungen (v.a. der Wirtschaft) mit Indonesien zu gefährden, der Grund für die schwache Erwiderung des Bundesinnenministeriums und das Fehlen einer förmlichen Entschuldigung für die Unfähigkeit, die Grundrechte der jungen Indonesier in Westdeutschland zu sichern, gewesen seien. [16]
Fußnoten
- Richard Vinen (2018): 1968. Der lange Protest. Biografie eines Jahrzehnts, aus dem Englischen von Martin Bayer/Heike Schlatterer, München, S. 30.
- King, Martin Luther Jr. (1964), God’s Children. Predigt in der Marienkirche Ostberlin am 13. September, in: The Civil Rights Struggle, African-American Gis, and Germany: A Digital Archive; URL: http://www.aacvr-germany.org/AACVR.ORG/index.php?option=com_content&view=article&id=94&Itemid=7 [letzter Aufruf: 10.09.2018].
- Freiburger Studentenzeitung, 8/1968; H.C., Aux Larmes, Citoyens!.
- Neues Forum 173, 5/1968, Ernst Fischer, Keine Romantiker in Prag, S. 284.
- Kathleen McClancy (2013), “The Iconography of Violence: Television, Vietnam, and the Soldier Hero”, in: Film & History 43 (2), S. 50.
- , S. 57ff.
- FSZ, 7/1967; Ute von Hagemann, „Republik Vietnams?“, S. 23.
- Zitiert in FSZ, 7/1969; „th. b.“, „Universitäten sollen Zuchthäuser werden“, S. 2.
- Mao Zedong (1966), Bombard The Headquarters – My First Big-Character Poster, URL: https://www.marxists.org/reference/archive/mao/selected-works/volume-9/mswv9_63.htm [letzer Aufruf: 11.08.2018].
- „Wenn ein nagelneues Gesellschaftssystem auf der Basis eines alten Systems errichtet werden soll, dann muß diese Basis vorerst saubergefegt werden.“ Mao Zedong (1955), Vorbemerkung zum Artikel „Eine ernste Lehre“, in: Der sozialistische Aufschwung im chinesischen Dorf, Bd. I; zitiert in: Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung; URL: http://infopartisan.net/archive/maowerke/Mao_Worte_des_Vorsitzenden.htm#link3 [letzter Aufruf: 11.08.2018].
- Meisner, Maurice (19993), Mao’s China and After: A History of the People’s Republic, New York, S. 354; Chang, Jung/Halliday, Jon, Mao: The Unknown Story, London, S. 569.
- FSZ, 6/1969); Cless, Fesseler, Krieger, Zons, „Gruppenarbeit“, S. 2–3; „th. b.“, „Universitäten sollen Zuchthäuser werden“, S. 2; Ebd.; [Anon.], „Zwangsanpassung ist offener Terror“, S. 3.
- Harsja Bachtiar (1989), „Indonesia“, in: Philip G. Altbach (Hg.), Student Political Activism: An International Reference Book, Westport, Connecticut, S. 114.
- FSZ, 2/1967; Kornelia Wendt, „Wertvoll mitgewirkt und sinnvoll unterstützt“, S. 10.
- wus nachrichten, 1, 2/1967, S. 7; vgl. Irina Grimm, Indonesische Studierende in der Bundesrepublik (1965 bis 1998): Zwischen Repression und Opposition, Zulassungsarbeit, Freiburg: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2018, S. 69.
- Grimm, Indonesische Studierende, S. 29.