Kann Spuren von ’68 enthalten

Kann Spuren von ’68 enthalten

Manche sehnen sich danach, andere waren dabei. Freie Liebe in Kommunen, Wut und Revolte an den Hochschulen und Peace and Love im VW-Bulli. War die 68er Bewegung wirklich so wie wir es uns heute vorstellen? Auf der Suche nach Spuren haben wir in Freiburg Menschen gefunden, die freie Liebe leben.
Wie protestieren Studierende heute auf beiden Seiten des Rheins?
Wir sind in den Bulli eingestiegen …

Freie Liebe – „Fick dich frei“?

Die 68er gelten als Zeit der freien und ungestümen Liebe. Ehe, Familie, Treue – alles kleinbürgerliche Konventionen. Aber war die Liebe damals wirklich so frei? Und was ist vom Traum des „Summer of Love“ heute noch übrig?

„Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ war damals die Devise vieler Studierenden.
Das Leben in Kommunen, Affären und wild wechselnde Partner.
Was halten Menschen in Freiburg heute von freier Liebe?

„Freie Liebe, warum nicht? Aber nicht für mich.“ Auf dem Münstermarkt sind sich die Leute einig. In anderen Ecken Freiburgs findet man aber durchaus Menschen, die freie Liebe auch heute leben. Beim Polyamorie-Stammtisch treffen sich einmal im Monat rund 30 Leute, um sich über Konzepte von Liebe und Beziehungen auszutauschen. Anders als bei der freien Liebe von 68 geht es bei Polyamorie mehr um Liebe als um Sex. Drei Teilnehmer des Stammtischs erklären, wie es ist, mehrere Personen gleichzeitig zu lieben.

 

Geteilte Liebe ist doppelte Liebe

Sie sitzen zusammen auf dem Balkon und lachen sich an. Lukas streichelt Lea über den Oberschenkel, sie erinnern sich an einen ihrer ersten gemeinsamen Abende. Sieht man die beiden so zusammen, könnte man meinen, es ist der Beginn einer ganz normalen Liebesgeschichte eines frisch verliebten Paares. Bis Lukas anfängt, von ihrem ersten Treffen zu erzählen.

Das werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen: Wir sitzen auf dem Sofa bei Lea zuhause, umarmen uns, küssen uns und plötzlich hören wir den Schlüssel in der Tür. „Ah, mein Mann kommt heim“, sagt Lea – wie in einem Film. Mir rasen tausend Möglichkeiten durch den Kopf: im Schrank verstecken, auf dem Klo einschließen, vom Balkon springen… Doch Lea bleibt ganz entspannt. Ihr Mann kommt rein, begrüßt mich mit „Hallo, ich bin der Martin“ und ist ganz locker und freundlich zu mir.

Lea und Lukas haben ihr Konzept von Polyamorie für sich selbst genau definiert. Über die Jahre haben die beiden viel ausprobiert, nachgedacht, miteinander und mit anderen gesprochen und ihre Beziehungsform angepasst. So ist es ihnen beispielsweise wichtig, dass alle Beziehungspartner sich untereinander kennen. Dadurch könne man den neuen Partner einschätzen, das nehme die Angst und damit das Misstrauen. Dabei spielen für Lea drei Arten von Vertrauen eine wichtige Rolle:

Zuerst einmal muss klar sein: Wenn mein Partner sagt „Ich liebe dich“, dann heißt das auch „Ich liebe dich“ und nichts anderes. Außerdem muss ich Vertrauen in die Beziehung haben, dass diese hält und sich nicht so leicht erschüttern lässt. Als drittes, und das ist vielleicht das Schwerste, braucht man Selbstvertrauen. Ich muss darauf vertrauen, dass nicht einfach jemand kommt und mich ersetzen kann.

Lea und Lukas können sich alles sagen. Ihren Freunden und ihrer Familie von ihrer polyamoren Beziehung zu erzählen, war jedoch ein Riesenschritt. Zuerst war da viel Unverständnis, doch schließlich akzeptieren Leas Eltern Lukas als Dritten im Bunde. Es passe zwar nicht in ihr Weltbild, aber das müsse ja nichts Schlechtes sein, denkt Leas Mutter heute. So viel Offenheit ist nicht die Regel. Trotz der sexuellen Revolution in den 68ern ist es auch heute noch nicht gesellschaftlich akzeptiert, offen andere Formen von Liebe zu leben.

Ich stelle mich ja nicht einfach auf die Straße und verkünde, dass ich gerne Sex mit mehr als einer Person will. Das verbaut einem Chancen in anderen Bereichen. Aber mir geht es nicht darum, wie vielleicht 68, mit möglichst vielen Menschen Sex zu haben. Es ist einfach eine andere Form von Liebe.

Kein Sprung vom Balkon, keine Eifersuchtsszene – dafür ein heiteres Gespräch zu dritt. Dass das möglich ist, liegt an der Beziehungsform, die Lea und ihr Mann zu der Zeit führen. Nach zehn monogamen Jahren entschlossen sich die beiden, ihre Beziehung zu öffnen. Die folgenden fünf Jahre leben sie in einer offenen Beziehung, die langsam in Polyamorie übergeht. Mittlerweile haben sich Lea und ihr Mann getrennt, doch mit Lukas lebt Lea weiter in einer polyamoren Beziehung.

Für mich ist Liebe etwas, was viel frei lässt. Diese gegenseitigen Freiheiten sind für mich wichtig. Ich freue mich für meinen Partner, wenn er etwas Schönes erlebt, das kann auch ein Kuss sein. Polyamorie ist für mich nicht nur etwas Sexuelles, es ist eine Art zu leben.

Lea und Lukas geben sich viele Freiheiten. Sie haben nur zwei fixe Regeln: Der Sonntagabend gehört den beiden, Sex mit anderen geht nur mit Kondom. Das Paar findet die Lockerheit wichtig. Dadurch müsse ständig kommuniziert und reflektiert werden, was beide wollen. Kommunikation, Ehrlichkeit und Transparenz sind für Lea und Lukas unverzichtbar. Lea findet:

Für mich ist das Wichtigste, dass ich nicht lügen muss. Dass ich mir keine Geschichten ausdenken muss, was ich am Wochenende gemacht habe. Natürlich kann auch mal Eifersucht aufkommen. Das ist ein legitimes Gefühl. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht und darüber spricht. Mit der Zeit lernt man, andere Menschen nicht mehr als Konkurrenz wahrzunehmen.

68 – eine wilde Zeit ?

Polyamorie, offene Beziehung, Friends with Benefits – heute sind viele alternative Beziehungsformen möglich. Waren es wirklich die 68er, die dazu geführt haben ? Christa Brauns und Traute Hensch erzählen von ihrer Jugend in Freiburg.

Traute hat in ihrer Erinnerungskiste einige Fotos aus den 60er und 70er-Jahren gefunden. Wenn sie sich die Urlaubsfotos mit ihrem verheirateten Professor in Griechenland oder die Bilder mit ihrer damaligen WG ansieht, muss Traute lächeln.

Danke 68?

Pille, Abtreibung, sexuelle Revolution. Sind wir heute toleranter und freier? Professorin Nina Degele, Soziologin an der Uni Freiburg und Expertin für Genderstudies, spricht über freie Liebe und die Frauenbewegung.

Die 68er-Generation hat nicht nur gesellschaftliche Normen wie Ehe und Monogamie angefochten. Auch die Hierarchie an Hochschulen stand im Fadenkreuz der Protestbewegung. 

Zwei Systeme, zwei Protestkulturen?

Was bleibt von 68? Jede Menge Symbole, Slogans und Plakate. Sie zeigen die Hoffnungen der Demonstranten und die Kritik an einem verstaubten Gesellschaftsmodell. Manchmal mit Humor, manchmal mit Sarkasmus, aber immer kreativ: Die Plakate richten sich gegen Repression und Konformismus. Sie fordern auf zur sozialistischen Revolution, prangern den Vietnamkrieg an und fordern bessere Bildung.

Die Uni gilt als Geburtsort des größten sozialen Protests des 20. Jahrhunderts. Von Europa bis Amerika ging die Jugend auf die Straße, angeführt von Studierenden. 50 Jahre später – wie gehen die Studierenden von heute mit dem Erbe von 68 um? Wir haben uns auf beiden Seiten des Rheins umgehört.

Ist die Uni noch Wiege sozialen Protests? Sind Studierende von heute noch leidenschaftliche Revoluzzer oder doch eher apolitische Streber? Ganz gleich ob Freiburg oder Straßburg, die Meinungen gehen auseinander – sowohl bei den Professoren als auch bei den Studierenden.

Darum haben wir mit einem Professor gesprochen, der beide Systeme kennt.

Christoph Barmeyer ist Professor für Interkulturelle Kommunikation an der Universität Passau. Acht Jahre lang hat er an der École de Management in Straßburg unterrichtet.

Wie sehen Sie das heutige Verhältnis von Professoren und Studierenden in Frankreich?

Was ist kennzeichnend für das aktuelle französische Hochschulsystem?

Welche Stärken hat das hierarchische System Frankreichs im Vergleich zum deutschen System?

Christoph Barmeyer ist Professor für Interkulturelle Kommunikation an der Universität Passau. Acht Jahre lang hat er an der École de Management in Straßburg unterrichtet.

Was ist kennzeichnend für das aktuelle französische Hochschulsystem?

Wie sehen Sie das heutige Verhältnis von Professoren und Studierenden in Frankreich?

Welche Stärken hat das hierarchische System Frankreichs im Vergleich zum deutschen System?

Im Interview hat Professor Barmeyer studentische Gremien angesprochen. Welche Gremien es gibt, wie sie gewählt werden und was sie machen, ist in beiden Ländern unterschiedlich. Darum hier das deutsche und das französische System im Überblick:

In Deutschland bildet der Studierendenrat (StuRa) den Knotenpunkt studentischer Beteiligung. Der Rat setzt sich aus gewählten Studierenden diverser politischer Listen und Initiativen zusammen. Jede Fakultät entsendet einen Vertreter. Im StuRa werden die Beschlüsse gefasst. Der Asta (Allgemeiner Studierendenausschuss) ist für deren Umsetzung verantwortlich. Zusätzlich wählen die Studierenden Vertreter für den Fakultätsrat und den Senat. Der Senat ist das höchste Gremium der Uni. Ihm gehören der Rektor und die Dekane der diversen Fakultäten an.

Die Franzosen wählen alle zwei Jahre für 3 unterschiedliche Gremien: fürs Studentenwerk (CROUS), den Verwaltungsrat und den Akademischen Rat. Der Akademische Rat teilt sich in zwei Gremien. Das CFVU bestimmt die Inhalte der einzelnen Studiengänge und kümmert sich um alle Belange des studentischen Lebens, die nicht direkt das Studium betreffen. Die Forschungskommission entscheidet über die Verteilung der Finanzmittel.

Den französischen Nationalrat für höhere Bildung und Forschung (CNESR) gibt es seit 1946. Er vereint Mitglieder aller französischen Hochschulen. Auf Druck der 68er Bewegung wurde der Rat reformiert. Seitdem sind immerhin 11 der 100 Mitglieder Studenten. Wichtigste Aufgabe des Gremiums ist es, die staatlichen Ausgaben für die Hochschulpolitik zu beurteilen. Dabei hat es allerdings nur eine beratende Funktion.

Blockierer oder Idealisten?

Im April 2018 sind in Straßburg ein paar hundert Studierende auf die Straße gegangen. Sie protestierten gegen einen neuen Numerus Clausus. Die Medien haben diesen Protest kritisiert, verurteilt und er war schnell aus den Schlagzeilen verschwunden. In Frankreich war bislang jedem Abiturienten ein Platz an der Uni garantiert. Von nun an soll strenger ausgewählt werden: Eine Revolution in der französischen Bildungspolitik. Was in Deutschland seit den 1970ern üblich ist, hat nun viele französische Hochschulen lahm gelegt.

Die Studierenden veranstalteten Demos, errichteten Barrikaden. Manche haben versucht, die Prüfungen zu verhindern. Ein Protest wie 50 Jahre zuvor im Mai 68. Aber die Studierenden sind gescheitert. Die Regierung hat sie als Blockierer abgestempelt. Die Berichterstattung war negativ, die Streikbeteiligung gering. Was bleibt, ist die Erinnerung an Blockaden, nicht an wortgewandte Revolutionäre à la Rudi Dutschke oder Daniel Cohn-Bendit. Vergessen ist die Vision der Blockierer: der freie Zugang zur Universität für alle. Wer den Kampf der Wörter verliert, verliert auch den Kampf in der Realität.

Aus dem Mief raus in die Freiheit

Seit seiner Markteinführung im Jahre 1950 zaubert der VW-Bulli Menschen überall auf der Welt ein Lächeln ins Gesicht. Freiheit, Ausbruch und Hippieleben – warum der Bulli unsterblich wurde.

Der Mythos Bulli stammt aus den 60er Jahren. Mathieu Gstalder ist ein erfahrener Mechaniker in einer Werkstatt für Bullis im Elsass. Bei ihm löst der Bulli keine romantischen Gefühle aus.

Sehen Sie eine Verbindung zwischen dem aktuellen Hype um den Bulli und dem Flower-Power-Sommer 1968?

Nein, da sehe ich keine direkte Verbindung. Dennoch ist das freundliche Äußere des Bulli seit jeher unverkennbar. Wenn jemand eine längere Reise plant und dafür ein Fahrzeug sucht, wird er automatisch an den Hippie-Bus denken.

Aber ob der Bulli wirklich in Verbindung mit der Hippie-Bewegung gebracht werden kann, kann ich nicht sagen. Die Hippies haben den Bulli damals jedenfalls so genutzt, wie wir ihn heute nutzen wollen. Wenn sich heute jemand einen Bulli kauft, möchte er meist aus dem Alltag ausbrechen. Es gibt also doch eine Parallele zu 68. Aber wollen die Bulli-Besitzer wirklich in die Vergangenheit zurückkehren? Ich glaube das nicht.

Sie arbeiten in der Nähe der Grenze. Ist die Begeisterung für den Bulli bei Deutschen und Franzosen gleich?

Die Situation in Deutschland und Frankreich ist nicht die gleiche. Die deutsche Gesellschaft ist gegenüber dem Bulli und der Idee des Ausbruchs viel offener. In Deutschland trifft man viele Bulli-Besitzer, die ihren Bulli zum Campen eingerichtet haben. Die Deutschen haben das einfach im Blut.

Michael Steinke (links mit seiner Frau) hat in seinem Leben mehr als 70 VW-Busse besessen. Isabel Menche (rechts) fährt ihren seit drei Jahren. 1968 war er ein 21-jähriger Student, sie ist Ende der 80er geboren und lebt ihren Traum vom Hippieleben. Beide Bullibesitzer verbinden mit ihrem Bus ein bestimmtes Gefühl. Was der VW Bus für sie bedeutet erzählen sie im Interview.

Der Bulli steht wieder in der Garage. Unser Kurztrip ins Jahr 68 ist zu Ende. Ganz spurlos ist er nicht an uns vorbeigegangen. Den Wunsch nach Freiheit und Veränderung können wir noch immer spüren. Viele offene Fragen und Denkanstöße bleiben. Wir stellen unsere Vorstellung von Liebe in Frage. Sind wir viel konservativer als wir bisher dachten?
Wieso lehnen wir uns nicht mehr wirklich gegen bestehende Hierarchien auf?
Denn eins steht fest: Revolution ist machbar, Frau Nachbar…

Eine Crossmedia-Produktion von Deutsch-französischen Journalismusstudierenden im Sommersemester 2018:
Annika Schubert, Boris Granger, Pierre Tudy, Matthieu Le Meur, Lucy Duboua-Lorsch, Jeanne Meyer, Christina Molle, Annalina Ebert, Melina Lang, Stefanie Ludwig, Marie Laubenthal, Sarah Hofmeier
in Zusammenarbeit mit der crossmedialen Ausbildungsredaktion uniCROSS am Medienzentrum der Universitätsbibliothek Freiburg.
Fotos: DFJ-Studierende, privat.

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